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Über Zwangsprostitution und Menschenhandel – Helene Tursten im Gespräch mit dem Literaturportal schwedenkrimi.deAm 18. Oktober 2008 präsentierte Helene Tursten ihren Roman "Die Tote im Keller" im Rahmen der Großen Schwedischen Kriminacht beim „Mord am Hellweg“ in Kamen. Vorab hatte das Literaturportal schwedenkrimi.de die Gelegenheit, mit der Autorin über ihren aktuellen Roman und die neuesten Entwicklungen zu sprechen.Literaturportal schwedenkrimi.de: „Die Tote im Keller“ ist das aktuellste Buch, das auf Deutsch von Ihnen vorliegt … Helene Tursten: Auf Deutsch, ja. In Schweden kam im September mein neues Buch heraus. Literaturportal schwedenkrimi.de: Wie heißt es? Helene Tursten: „Det lömska nätet“ (zu Deutsch etwa „Das heimtückische Netz“, Anmerk. d. Red.) Literaturportal schwedenkrimi.de: Worum geht es da? Helene Tursten: Es sind zwei parallele Geschichten. Zum einen geht es um Internetpädophile, also um Männer, die sich übers Internet an Kinder heranmachen, um sie zu treffen. Wir hatten einige solcher Fälle in Schweden, die große Aufmerksamkeit erregt haben. Ein Mann ist für 54 Vergewaltigungen verurteilt worden – verurteilt! Ganz zu schweigen von den Fällen, für die er nicht vor Gericht gestellt worden ist. Es gibt bestimmt viele Kinder, die ihren Eltern von so etwas nichts erzählt haben, und die Eltern wissen viel zu wenig darüber, was ihre Kinder im Internet machen. In der anderen Geschichte geht es darum, dass Kommissar Sven Andersson pensioniert wird. Was passiert also mit ihm? Er wechselt das Team und bekommt einen eigenen Fall. Literaturportal schwedenkrimi.de: Die Themen in Ihren Büchern scheinen härter zu werden … Helene Tursten: Nein, das finde ich eigentlich nicht. Ich hatte schon in meinen vorhergehenden Romanen, Geschichten, die eine Verbindung zur Gegenwart haben. In meinem ersten Krimi geht es beispielsweise um Neonazismus unter Jugendlichen. Das zweite Buch behandelte die missglückte Psychiatriereform in Schweden. Na ja, im dritten Buch gab es einen Serienmörder. Das hatte vielleicht nicht so viel mit der aktuellen Gegenwart zu tun, aber eigentlich habe ich mich immer bemüht, einen aktuellen Bezug herzustellen. Literaturportal schwedenkrimi.de: „Die Tote im Keller“ berichtet von Zwangsprostitution und Menschenhandel. Zwei Jahre zuvor erschien in Schweden allerdings das Buch „Blasse Engel“ von Anders Roslund und Börje Hellström zum selben Thema, jedoch mit einem ganz anderen Konzept als dem Ihren. Während die zwei Männer bevorzugt aus der Perspektive der verschleppten und missbrauchten Frauen und Mädchen erzählen, halten Sie in Ihrem Roman daran fest, aus der Perspektive der ermittelnden Polizei zu erzählen. Warum haben Sie sich – gerade als Frau – dazu entschlossen? Helene Tursten: Naja, zum Teil mache ich das schon. Ich nehme die Leser mit auf eine Reise in das Milieu, ich führe sie langsam an diese Thematik heran und zeige, in welchem Milieu, unter welchen Umständen die Mädchen leben und zur Prostitution gezwungen werden und wie sie nach Europa und Schweden kommen. Ich wollte zeigen, dass das kein lokales Problem ist, sondern auch bei uns in Schweden existiert. Literaturportal schwedenkrimi.de: Was war denn der konkrete Auslöser, gerade über dieses Thema zu schreiben? Helene Tursten: Dass es ein weltumspannendes Problem ist und dass es im Prinzip um modernen Sklavenhandel geht. Die Mädchen werden verschleppt, psychisch und physisch missbraucht, sie infizieren sich mit Aids und sie sind ihren Peinigern vollkommen ausgeliefert. Und die Leute tun so, als ob das Problem nicht existieren würde! Literaturportal schwedenkrimi.de: Wie muss man sich das denn vorstellen? Lesen Sie beispielsweise etwas in der Zeitung darüber und dann entsteht die Idee, darüber zu schreiben?
Das ist ganz unterschiedlich. Bei „Der erste Verdacht“ beispielsweise geht es um Wirtschaftskriminalität. Ich wusste nichts über Wirtschaft und Wirtschaftskriminalität. Es hat daher drei Jahre gedauert, bis der Roman fertig war. Ich musste viel lesen, lernen und recherchieren. In der Zwischenzeit habe ich andere Romane geschrieben, aber ich wollte unbedingt über dieses Thema schreiben und zeigen, wie diese Welt aussieht und wie es dort zugeht. Manchmal aber ist es auch eine Begegnung mit einer Person, die Auslöser für eine Romanidee sein kann. Manchmal beginnt es auch nur mit einem Bild. Literaturportal schwedenkrimi.de: Wie aber recherchiert man für ein Thema wie Zwangsprostitution und Menschenhandel? Haben Sie mit Polizisten oder Sozialarbeitern gesprochen? Helene Tursten: Mein Mann war Polizist und daher kennen wir viele aus dem Polizeikorps. Ich durfte daher den Chefermittler der Einheit für Menschenhandel für zwei Tage während seiner Arbeit begleiten. Alles, was ich in dem Buch beschreibe, ist absolut authentisch. Genauso geht es zu. Literaturportal schwedenkrimi.de: Wie geht man denn nach so einem Tag, an dem man sicherlich viele schreckliche Eindrücke gewonnen hat, nach Hause? Helene Tursten: Ja, das ist entsetzlich. Man fühlt sich furchtbar, die Bilder sind sehr stark, aber das Schreiben ist ein gutes Ventil. Es hilft, die Eindrücke zu verarbeiten, von den Bildern loszukommen. Literaturportal schwedenkrimi.de: Im Verlauf des Romans stellt sich heraus, dass der Polizist Torleif sehr stark in den Tod des Mädchens involviert ist. Ich nehme an, dass war eine bewusste Entscheidung …? Helene Tursten: Richtig. Ich wollte zeigen, dass es nicht ein bestimmter Typ Mann ist, der zu Zwangsprostituierten geht, sondern dass es jeder Mann sein kann, dass sie keiner bestimmten Kategorie angehören. Im Gegenteil. Erhalten die Männer die Gelegenheit dazu, nutzen viele von ihnen sie auch. Literaturportal schwedenkrimi.de: Heute Abend nehmen Sie an einer Lesung mit Arne Dahl und – in memorian – Stieg Larsson teil: drei Autoren mit drei völlig unterschiedlichen Konzepten. Seitdem Sie selbst als Kriminalautorin debütierten, ist viel geschehen. Wie sehen Sie denn die heutige Entwicklung des Genres? Was hat sich verändert, seit Ihrem Debüt? Helene Tursten: Ich finde, das kann man nicht auf die Kriminalliteratur begrenzen. Die Literatur insgesamt hat sich enorm verändert. Wir leben in einer sehr schnelllebigen Zeit und das spiegelt sich auch in der Literatur und ihrer Sprache wider. Literaturportal schwedenkrimi.de: Könnten Sie sich denn vorstellen, einen Roman zu schreiben, der eher in Richtung Dahl oder Larsson geht?
Nein, ich glaube nicht. Ich bleibe meinem Konzept treu. Larssons Stil ist so unglaublich wortreich. Er muss viel erzählen, bis er zum eigentlichen Kern kommt. Ich bevorzuge eine Sprache, die sehr direkt ist, die zum Punkt kommt. Sie darf natürlich auch nicht zu einfach sein, nicht vereinfachen, aber sie soll gewissermaßen „rein“ sein. Literaturportal schwedenkrimi.de: Verwenden Sie viel Zeit darauf, das Manuskript nach Fertigstellung nochmals durchzugehen und zu korrigieren? Helene Tursten: Oh ja! Ich sage immer, dass es ungefähr sechs Monate dauert, den Roman zu schreiben und dann noch mal drei Monate, es zu redigieren. Das Redigieren ist das Wichtigste beim Schreiben. Erst durch das Redigieren wird das Buch, zumindest für mich, zum Roman. Man muss den Text sozusagen waschen, damit er deutlich wird. Literaturportal schwedenkrimi.de: Ihre Bücher sind auch verfilmt worden. Waren Sie in irgendeiner Weise an dem Projekt beteiligt? Helene Tursten: Ja, ich war beim Manuskriptschreiben beteiligt, als eine Art Redakteur oder externer Berater. Ich verstehe natürlich nichts vom Filmemachen, und es gab professionelle Manuskriptschreiber, aber ich bin sehr dankbar, dass die Produzenten der Meinung waren, ich könnte eine Art positive Kraft während des Prozesses sein, dass ich mit Ansichten und Kommentaren kommen durfte. Literaturportal schwedenkrimi.de: Sind die Filme im Vergleich zu den Romanen denn sehr verändert worden? Helene Tursten: Ja. Das war auch etwas, das ich erst lernen musste. Wenn man am Filmmanuskript sitzt, muss man das Buch vergessen. Man muss sich darauf konzentrieren, dass es ein guter Film wird – und nicht ein gutes Buch. Würde man das Buch 1:1 abfilmen, ergäbe das vielleicht 14 Stunden Film. Es gibt so viele Personen und Nebenhandlungen in den Romanen, das kann man nicht alles abfilmen. Man muss sich stattdessen auf das Wesentliche konzentrieren. Ich bin aber sehr zufrieden mit dem Ergebnis, nicht zuletzt Dank Angela Kovács, die die Irene Huss spielt und meiner Meinung nach genau das richtige Gefühl dafür rübergebracht hat – die Spannungen in der Familie, die Spannungen zwischen den Kollegen. Ich erkenne mich und meine zugrunde liegenden Gedanken und Ideen in den Filmen wieder. Literaturportal schwedenkrimi.de: Zum Abschluss noch die Frage, wem Sie den Ripper-Award, der erstmals im Rahmen des Festivals „Mord am Hellweg“ vergeben wird, verleihen würden. Nominiert sind mit Maj Sjöwall, Henning Mankell und Håkan Nesser drei Schweden sowie die Autoren Val McDermid und John Harvey. Wer ist Ihr Favorit. Wem würden Sie den Preis verleihen und warum? Helene Tursten: Maj Sjöwall, weil die Romane um Kommissar Beck bahnbrechend für die skandinavische Kriminalliteratur waren und für ganz Europa Impulse gegeben haben. Dann wurde es um die Kriminalliteratur wieder etwas ruhiger, bevor dann natürlich Henning Mankell kam, dessen Werk auch eine sehr bedeutende Rezeption im europäischen Raum erlangt hat, aber die Frage ist doch, ob das ohne Maj Sjöwall und Per Wahlöö möglich gewesen wäre. Literaturportal schwedenkrimi.de: Frau Tursten, vielen Dank für das Gespräch! Autorin: Alexandra Hagenguth/ © Oktober 2008 - Literaturportal schwedenkrimi.de - Krimikultur Skandinavien |
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