Leseprobe
1. KAPITEL
Die Kälte: schneidend, rein. Das Wasser - wie etwas Graues und
Lebendiges, Seide!
Kein Himmel, nein, keine Kontraste, das hätte sie nicht ertragen,
das tat den Augen zu weh. Aber Wolken, am liebsten dichte, geballte.
die Schnee verhießen.
Und er sollte trocken vom Himmel fallen, sollte wie Rauch durch die
Straßen treiben, sie würde ihre Kleider aufreißen und
sich von der Kälte durchdringen lassen.
Dort in der Ferne hatte sie versucht, genau das heraufzubeschwören,
das Gefühl von Eiskristallen. Voller Anspannung hatte sie die Augen
geschlossen, um das Geräusch eines nordischen Ufers zu hören,
an einem Frühlingstag, wenn das Eis schmilzt.
Es war ihr nicht gelungen. Nicht einmal, als die heftigsten Fieberanfälle
ihren geschwächten Körper schüttelten und Nathan sie
mit allem bedeckte, was er auftreiben konnte, Kleider, Stoffreste, Gardinen.
Sie fror, aber es war die falsche Art von Kälte.
Vorwärts, vorwärts, sie rannte.
So hast du mich nie gesehn!
Vorwärts, vorwärts jagte ihr massiger Leib, die Füße
federleicht in den Joggingschuhen. Vor ein paar Tagen erst hatte Justine
sie in einem Sportgeschäft in Solna anprobiert, hatte sie vor den
kritischen Augen eines jungen Mannes mit schneeweißen Zähnen
und glänzendem, dichtem Haar getestet. Er hatte sie auf einem Laufband
traben lassen und ihre Fußbewegungen mit einer Videokamera aufgenommen.
Beim Laufen hatte sie ihre Hände zu Fäusten geballt, entschlossen,
fest, aus Angst, das Gleichgewicht zu verlieren, aus Angst, er könnte
sie lächerlich finden, eine übergewichtige Frau von fünfundvierzig
Jahren, könnte etwas Verzweifeltes in der Art entdecken, wie sie
die Knie zusammenpresste.
Missmutig hatte er sie betrachtet.
"Sie pronieren", stellte er fest.
Unsicher starrte sie ihn an.
"Doch. Wirklich. Aber das ist nicht schlimm, das macht fast jeder."
Sie stieg vom Band herunter, die Haare klebten ihr im Nacken.
"Ich meine damit, dass Sie falsch belasten. Sie laufen nicht gerade,
sondern seitwärts, was dazu führt, dass sich Ihre Sohlen einseitig
abnutzen."
Er hob ihre alten Winterstiefel hoch und hielt sie ihr entgegen.
"Sehen Sie selbst!"
"Aber ich laufe doch nie, ich bin noch nie gelaufen." "Das
spielt keine Rolle. Sie pronieren auf jeden Fall." "Promenieren?
"
Der Versuch eines Scherzes. Er lachte höflich.
Justine kaufte die Schuhe, sie kosteten fast einen Tausender. Er hielt
ihr einen kleinen Vortrag darüber, dass es sich auf Dauer lohne,
jetzt auf Qualität zu setzen, man könne sich selber Schaden
zufügen, wenn man mit den verkehrten Schuhen jogge, sich verletzen,
eine Zerrung holen, vor allem, wenn man überhaupt keine Übung
habe.
Die Schuhe waren von Avia. Sie dachte ans Fliegen, als sie es bemerkte.
An Flucht.
Sich Horizonten nähern.
Die dunkelblaue Mütze tief ins Gesicht gezogen, begann
sie den Anstieg Richtung Johannelundstippen. Sie lief, vornübergebeugt,
aus dem Gras stoben kleine Schwärme grüner Vögel. Lautlos,
aber vorwurfsvoll. Justine kam einfach so daher und unterbrach sie bei
einer wichtigen Beschäftigung, sie mit ihrem keuchenden Menschenleib,
ihrem schweren, rasselnden Atem.
Wir entgleiten einander.
Nein.
Du solltest mich jetzt sehen, du wärst stolz auf mich, ich könnte
dir bis ans Ende der Welt folgen, und du würdest dich umdrehen
und mich mit deinen Himmelsaugen anschauen, das ist Justine, die ich
liebe, sie kann an der Wand laufen wie eine Fliege.
Wie eine Laus.
Oben auf der Kuppe wehte ein kräftiger Wind, der ihr die Tränen
in die Augen trieb. Unten breiteten sich die Häuser aus. Sie glichen
kleinen Pappschachteln, aufgestellt in einem Gewimmel aus Straßen
und Wendehämmern, umgeben von rankenden Rosenhecken. So musste
auch das Modell ausgesehen haben, das ursprüngliche Gipsmodell
des Architekten.
Um ein Haar wäre sie geradewegs in die Reste eines abgebrannten
Feuerwerks getreten, in Flaschen und Plastikbecher. Eine Gruppe von
Leuten war in der Silvesternacht hierher gekommen, um besser gesehen
zu werden und höher schießen zu können als alle anderen
und dann anschließend betrunken hinuntergetorkelt, nach Hause.
Manchmal fuhr sie mit dem Auto zu der neuen Reithalle in Grimsta. An
Werktagen fand man dort immer einen Parkplatz. Pferde sah man nur selten,
doch einmal, auf der schlammigen Weide direkt neben dem Stall, entdeckte
sie ein paar Tiere mit langen Beinen, ihre Mäuler wanderten wie
Staubsauger über die Erde. Sie konnte keinen einzigen Grashalm
entdecken.
Justine verspürte unwillkürlich den Impuls, in die Hände
zu klatschen, um eine unmittelbare Reaktion auszulösen, um zu erleben,
dass eines, vielleicht das Leittier, sie entsetzt anstarrte und durchging,
ohne zu begreifen, dass es an allen Seiten von Zäunen umgeben war.
Voller Panik würde es an nichts anderes mehr denken können
als an Flucht, und die anderen würden ihm folgen. Außer sich
vor Angst würden sie durch den Morast donnern und völlig die
Orientierung verlieren.
Natürlich tat sie es nicht.
Buchtipp |
|
Links von der Eisbahn begann eine beleuchtete Loipe. Sie folgte ihr
nur ein kurzes Stück, bog dann ab auf das matschige Terrain unterhalb
der Mietshäuser, ließ den Parkplatz am Maltesholmsbad hinter
sich, wo sie im Vorbeigehen registrierte, dass die kaputte Fensterscheibe
in einem der Wohnwagen, die dort standen, immer noch nicht repariert
worden war, und setzte ihren Weg Richtung Wasser fort, wo sie eine Weile
am Ufer entlanglief.
Vier Enten watschelten lautlos davon. Es war Januar, einige Grad über
Null, über eine Woche hatte es ununterbrochen geregnet, aber an
diesem Nachmittag war der Himmel bleich und weiß.
Sie atmete durch die Nase.
An den Hängen lagen Berge von Laub, der Verrottungsprozess schien
beendet zu sein, sie waren braun und glitschig, erinnerten in nichts
an Leder.
Wie dort.
Kein Laut, keine Vögel oder Tropfen, nur ihre eigenen rhythmischen
Schritte, das dumpfe Stampfen, als sie sich den Hügel hochkämpfte,
schließlich wurde es hallender, sie hatte die Holzbrücke
erreicht und wäre beinahe hingefallen. Die vom Wasser aufsteigende
Feuchtigkeit hatte einen tückischen Belag gebildet, der die Avia-Sohlen
ins Rutschen brachte.
Nein! Nicht stehen bleiben, jetzt keine Schwäche zeigen, ihre Lungen
brannten, ein stechendes und leises Röcheln, sie zwang sich weiter,
als wäre sie er. Nathan.
Du wärst stolz auf mich. Liebe mich.
Zu Hause angekommen blieb sie gleich hinter der Tür stehen, lehnte
sich gegen die Wand und schnürte sich die Schuhe auf. Riss sich
die restlichen Kleider vom Leib, den roten, winddurchlässigen Overall,
das Zeug darunter, den Sport-BH und die Unterhose. Breitbeinig stand
sie da, streckte ihre Arme aus, ließ den Schweiß langsam
verdunsten.
Der Vogel flatterte von oben auf sie herab. Das Rauschen seiner Schwingen,
er kollerte, knurrte ohne Unterlass. Er setzte sich in ihr Haar, klammerte
sich mit seinen groben, glänzenden Krallen fest. Sie bewegte den
Kopf, spürte ihn als warmes Gewicht mitten auf ihrem Schädel.
"Hast du auf mich gewartet?", fragte sie. "Du weißt
doch, dass ich immer wiederkomme."
Sie strich ihm über den Rücken und scheuchte ihn dann weg.
Mit griesgrämigem Gurren verschwand er in der Küche.
Auf dem dicken Teppich im Esszimmer machte sie ein paar Stretchingübungen,
die sie sich aus einem Gymnastikprogramm im Fernsehen abgeguckt hatte.
Sie war nie besonders wild darauf gewesen, etwas gemeinsam mit anderen
zu unternehmen. Scheu, hatte Nathan sie genannt. Anfangs war es das
gewesen, was ihn am meisten angezogen hatte.
Sie war nach wie vor nicht gerade schlank, aber die Zeit dort in der
Ferne hatte ihrem Körper eine neue Form gegeben, sie sah schmaler
aus, auch wenn die Waage weiterhin achtundsiebzig Kilo anzeigte. Sie
stand lange unter der Dusche, glitt mit dem Schwamm über ihren
Bauch, die Schenkel, in die Kniekehlen.
Dort in der Ferne war kein Tag vergangen, an dem sie sich nicht nach sauberen
europäischen Duschen gesehnt hätte, nach einem Fußboden
unter ihren Füßen, gekachelten Wänden.
Danke an den btb Verlag für die Veröffentlichungserlaubnis. |