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Literaturportal schwedenkrimi.de: Hast Du die damalige Baustelle des Kárahnjúkar Staudammes besucht und wenn ja, finden sich Deine Eindrücke in "Blutberg" wieder? Ævar Örn Jósepsson: Ja und ja. Der Besuch dauerte zwar nur vier Tage, aber es war Anfang März und sehr winterlich mit viel, sehr viel Schnee überall. Die ersten zwei Tage abwechselnd Schneesturm und Stille, dann Tauwetter und Sturm mit Regen und Schlamm und dann wieder Frost und totale Stille am letzten Tag... Typisches Wetter, also... Literaturportal schwedenkrimi.de: Woher hast Du die Informationen über den Ablauf der Arbeiten auf dieser Baustelle und die Stimmung auf dieser Großbaustelle? Auch die Schilderungen der geologischen Schwierigkeiten des Projektes zeigt, wie gut das Buch recherchiert ist? Ævar Örn Jósepsson: Informationen über den Ablauf der Arbeiten habe ich von überall hergeholt, sowohl aus den Medien als auch mittels Gesprächen mit etlichen Leuten – und natürlich durch den Besuch auf der Baustelle. Das gilt auch für die Stimmung, wobei der Besuch in diesem Zusammenhang noch viel wichtiger war als Erzählungen aus zweiter Hand. Einige Leute an Ort und Stelle waren mir sehr behilflich, haben mich überall hingefahren, mir alles gezeigt was ich sehen wollte, viele Anekdoten und Gerüchte mitgeteilt usw. Was die Geologie betrifft ist es so, dass alles, was wissenschaftlich genau und richtig dargestellt ist, vom Geologen Grímur Björnsson stammt. Sollten sich da irgendwelche Fehler eingeschlichen haben, dann sind die von mir... Und übrigens – alle Beschreibungen von Häusern, Gebäuden, Natur usw. sind so realitätsnah wie nur möglich. Der kleine Polizeicontainer stand genau da, wie ich es beschrieben habe, das Essen, das in der Kantine der National Power Company serviert wurde, war genau so wie ich es im Buch beschreibe (anfangs fand ich das wunderbar, am dritten Tag hatte ich genug...), das Wetter - usw. Literaturportal schwedenkrimi.de: Das Thema - mehr Industrialisierung oder mehr "grüner Tourismus" - ist ja aktueller denn je. Nachdem Island, bedingt durch die Finanzkrise, sehr auf Devisen angewiesen ist, ist der Widerstreit zwischen den Befürworter und den Gegnern eines stärkeren Ausbaus der Industrie (vor allem der Engergiegewinnung und der Aluminiumherstellung) nicht geringer geworden. Wie stark wird dieses Thema in Island diskutiert?
Es wird nicht heftig genug diskutiert, finde ich. Jetzt, da es ja diese große Krise gibt, sehen sich die Fürsprecher der Großindustrie gestärkt und die Gegner geschwächt – was ich irgendwie absurd, wenn auch irgendwie verständlich finde. „Wir können es uns jetzt nicht leisten,“ sagen die ersten, „romantisch zu denken. Arbeit und Aufschwung muss sein, Naturschutz ist Luxus und dummes Gerede, das dem Fortschritt im Wege steht und nur der Arbeitslosigkeit dient.“ Leider sieht es so aus, als ob sie mit diesen Parolen beim Otto Normalbürger Punkte sammeln – dabei war ja z.B. eben genau dieses Megaprojekt im Kárahnjúkar ein nicht unwesentlicher Faktor in den anschließenden Schwierigkeiten, die schlußendlich, zu dem Absturz und der katastrophalen wirtschaftlichen Situation geführt haben, in der wir uns heute befinden. Es gibt zwar Leute, die dagegen halten und versuchen, ihre Mitbürger zu überzeugen, dass es genau diese Mentalität war, die uns hierher gebracht hat, und dass es jetzt wichtiger ist als je zuvor, unsere einmalige Natur und Naturschätze zu schützen und uns nicht von schnellen Patentlösungen überzeugen zu lassen, aber trotzdem wird unsere Umweltministerin beschimpft, weil sie sich weigert, einfach alles zu erlauben, was die Industriellen machen wollen. Literaturportal schwedenkrimi.de: Im Buch thematisierst Du auch die aufkommende Kriminalität im Zuge einer solch riesigen Baustelle, mit Arbeitern aus vielen Ländern. Aufkommender Drogenhandel, Prostitution und auch Ausbeutung der Arbeiter. Gab es diese Kriminalität auf der Baustelle des Kárahnjúkar Staudammes und wie wurde sie zur Kenntnis genommen? Als etwas Fremdes, nicht zu Islands Gesellschaft gehörendes? Wenn man die aktuellen Nachrichten aus Island hört, so häufen sich dort die Meldungen über Rauschgiftdelikte, Prostitution, Gewalttätigkeiten. Hat sich die isländische Gesellschaft verändert und wenn ja, wo liegen die Ursachen? Ævar Örn Jósepsson: Mein Roman ist eben das: Ein Roman. Fiktion. Aber... Drogen gab es bestimmt da oben, und ich erlaube mir zu glauben, dass meine Beschreibung der Bemühungen der lokalen Polizei, um die zu finden, zu bekämpfen, näher an der Wahrheit sind, als sie jemals zugeben würden... Die schamlose Ausbeutung der Gastarbeiter da oben ist so gut wie unumstritten – es sei denn, du fragst die Arbeitgeber. Alle haben es gewusst, die isländischen Gewerkschaften haben versucht, dagegen zu fechten, aber mit geringem Erfolg. Ich glaube, es ist weder gelogen noch übertrieben, wenn ich behaupte, dass dieses Thema im Roman einigermaßen wirklichkeitsgetreu behandelt und beschrieben wird. Zum späteren Teil deiner Frage: Ja, die isländische Gesellschaft hat sich verändert. Die Ursachen liegen überall – aber nicht zuletzt in der Globalisierung auf der einen Hand, und der Gier des Menschen auf der anderen.... Literaturportal schwedenkrimi.de: Ist es richtig, dass sich selbst eine isländische Regierungskommission gegen das Kárahnjúkar Projekt aussprach, indem sie zu dem Ergebnis kamen, dass der ökologische Schaden größer als der ökologische Nutzen sei? Aber die Regierung, inklusive der Umweltministerin setzte das Projekt durch. Ævar Örn Jósepsson: „Regierungskommission“ ist vielleicht zu viel gesagt oder irreführend – aber das Planfeststellungsverfahren – also dort, wo diejenigen sitzen, die bestimmen, wo was hingehört, und ob dies oder jenes in Ordnung ist, wenn alle Anhörungen betreffs Naturschutz, Nachbarn, Strassenbau usw. usw. vorgenommen wurden, hat in der Tat empfohlen, das Projekt nicht so zuzulassen, wie es präsentiert wurde und die damalige Umweltministerin hat diese Empfehlung in der Tat ignoriert und umgedreht, was ihre Kollegen und Kolleginnen in der damaligen Regierung natürlich nicht überrascht, aber sehr erfreut hat... Literaturportal schwedenkrimi.de: Es gab und gibt ja eine Gegenbewegung. "Rettet Island" heißt sie, so glaube ich. Kämpft sie weiter? Denn es gibt ja neuen Streit über eine neue Aluminiumschmelze bei Helguvik. Das Unternehmen Century Aluminium besitzt ja bereits ein Aluminiumwerk in Grundartangi im Hvalfjörður. Es stellt sich die Frage, wer braucht das ganze Aluminium? Ævar Örn Jósepsson: Dies sind zwei ganz unterschiedliche Fragen... Aber: "Saving Iceland" (ein sehr, sehr indirektes Vorbild der Grünen Armee Fraktion im Roman) kämpft weiter. Und sie sind, glücklicherweise, nicht ganz alleine. Aber wer das ganze Aluminium braucht? Das weiß ich auch nicht. Aber es wäre ja auch ziemlich blöd – meiner Meinung nach – gegen Aluminium per se zu sein. Aluminium ist ja, an sich, weder gut noch schlecht. Hat, als Rohstoff, sowohl Vor- wie Nachteile. Auf der anderen Seite bin ich mir ganz sicher, dass Island, die isländische Wirtschaft, die isländische Natur und die isländische Bevölkerung keine weiteren Aluminiumfabriken braucht... Literaturportal schwedenkrimi.de: Wie sieht es eigentlich mit den Versprechungen auf mehr Arbeitsplätze und einer wirtschaftlichen Entwicklung in Ostisland aus? Wurden die Versprechen gehalten? Ævar Örn Jósepsson: Jein. Es gibt mehr Arbeitsplätze vor Ort, aber die wirtschaftliche und soziale Auswirkung ist viel kleiner und vor allem örtlich viel begrenzter als versprochen und angedeutet wurde. Jetzt, Ende Februar 2010, wurden eben 56 Wohnungen in Egilsstaðir zwangsversteigert, und es wird erwartet, dass in Kürze weitere 65 Wohnungen in Reyðarfjörður ebenfalls zwangsversteigert werden - allesamt Wohnungen, die Bauunternehmer während des Booms gebaut haben. In Erwartung dessen, dass das vorhergesagte Bevölkerungswachstum eintreffen würde. Diese Erwartungen haben sich aber nicht erfüllt. Keiner hat die Wohnungen gekauft, die stehen alle leer, und die Bauunternehmer sind pleite. Sie können die Darlehen, die sie vom staatlichen Wohnungsbaufond und/oder den Banken (die inzwischen alle auch Pleite und in mehr oder weniger staatlicher Obhut sind) nicht zahlen. Die Rechnung geht - natürlich, wie üblich - an die Steuerzahler, an uns alle. Insgesamt sind es knapp 200 Wohnungen im Osten, die aus ähnlichen Gründen zwangsversteigert wurden oder werden. Klingt nicht sehr schlimm? Man möge bedenken, dass die betroffenen Gemeinden insgesamt weniger als 10.000 Einwohner zählen...
Auch die Finanzierung war und ist sicherlich ein gewaltiges Abenteuer. Überfordert die Finanzierung des größten Industrieprojektes in Island die Finanzkraft des Landes? Vor allem jetzt in dieser schwierigen Zeit? Der halb staatliche Energiekonzern Landsvirkjun mußte einen riesigen Kredit auf dem internationalen Geldmarkt aufnehmen. Der Staat hat dafür eine Bürgschaft gegeben. Wie sieht die finanzielle Situation des Projektes heute aus? Ævar Örn Jósepsson: Wie genau die finanzielle Situation aussieht weiß ich natürlich nicht, aber gut wird sie bestimmt nicht aussehen, und die Schulden, die wegen diesem Projekt auf uns lasten machen uns das Leben keineswegs leichter, das stimmt. Die National Power Company hat auch erhebliche Schwierigkeiten, wenn ich es richtig verstehe, neue Projekte zu finanzieren. Darüber hinaus verweise ich einfach auf meine Antwort auf die Frage drei... Literaturportal schwedenkrimi.de: Wie sind die Erfahrungen mit dem Staudamm und dem neuen See nach der Fertigstellung? Außer der Veränderung der Landschaft? Ævar Örn Jósepsson: Wie schon etliche (pessimistische Querulanten und Ökofreaks und andere) Leute und Wissenschaftler vorausgesagt haben, gibt es jetzt schon Probleme mit ganz feinem Sand bzw. Lehmstaub, unten im Fljótsdalur. Was mir die größten Sorgen macht, ist, dass eine weitere, vorausgesagte Folge dessen, dass der Gletscherlehm bzw. -schlamm jetzt nicht mehr vom Fluss zum Meer gebracht wird, sich bald auch als Tatsache erweisen wird: Der Meeresboden vor der Ostküste wird sich möglicherweise nicht mehr, wegen fehlender, natürlicher Nahrung durch den Gletscherlehm, als das wichtigste Nahrungsgebiet bzw. Aufzuchtgebiet für große Teile unserer Fischbestände erweisen, als es früher der Fall war. Die Folgen? Tja, das wissen wir noch nicht... Literaturportal schwedenkrimi.de: Im Internet kann man Biografien Deiner Hauptpersonen, die von Dir skizziert wurden, nachlesen. Sind diese Biografien immer noch eine Matrix für Deine späteren Romane oder haben sich Deine Figuren ganz davon gelöst? Ævar Örn Jósepsson: Diese Biografien stimmen immer noch, und werden es auch weiter tun. Meine Charaktere werden mit jedem Jahr älter, genau so wie ich, du, und die Leser... Literaturportal schwedenkrimi.de: Dieses Jahr hast Du ja für Deinen Roman "Land Tækifæranna" den isländischen Krimipreis "Blóðdropinn" erhalten. Somit ist er auch für den skandinavischen Krimipreis "Glasnyckeln" 2010 nominiert. Damit wurden fast alle Deiner Kriminalromane nominiert oder ausgezeichnet. Ein gutes Gefühl? Ævar Örn Jósepsson: Ja, super! Literaturportal schwedenkrimi.de: Leider hat es dieses Jahr mit einem neuen Roman nicht geklappt. Wann wird er in Island erscheinen und welches Thema hat er? Ævar Örn Jósepsson: Im Herbst. Das Thema, wie immer: Leben und Sterben auf Island – in der Gegenwart. Im Hier und Jetzt. Literaturportal schwedenkrimi.de: Vielen Dank für das Gespräch und viel Erfolg für Dein neues Buch "Blutberg". Redakteur: Jürgen Ruckh/ Esslingen © Februar 2010 Literaturportal schwedenkrimi.de - Krimikultur Skandinavien |
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